Datenarchäologie

Im Keller aufräumen ist lohnenswert. Man schafft Ordnung und findet auch manch verloren Geglaubtes. Z.B. eine verstaubte Diskettenbox. Du meine Güte, was ist denn das? Meine Diss! Vor 29 Jahren zweifach gesichert auf 5 ¼“ und 3 ½“ Disketten. Ob die noch lesbar sind?

Disketten

Die 5 ¼“ Floppy Disks mit 360 kB sind bereits sehr exotisch. Es gibt zwar noch alte Laufwerke zu Liebhaberpreisen, es scheitert aber an der Anschlussmöglichkeit - kein aktueller PC hat ein Floppy-Interface. Floppy-Laufwerke mit USB? Fehlanzeige, gibt es nicht. Mir ist nur eine einzige technische Lösung bekannt: der USB 5.25" floppy controller von Device Side Data. Mit etwas Glück könnte es klappen. Versucht hab ich es nicht.

Viel besser sieht es bei den 3.5“ Disketten aus. Geeignete Laufwerke mit USB-Anschluss sind handelsüblich. Ein älteres Modell SFD-321U/HP von Samsung lag bei mir sogar noch im Keller. Na wunderbar, los geht’s.

Disketten auf HD kopieren

Erstes Problem: der Original-Treiber von Samsung funktioniert auf einem 64Bit Betriebssystem nicht. Eine kurze Recherche bei Dr. Google ergab einen Hinweis auf einen kompatiblen Treiber von NEC. Der Tipp war gut: der Treiber “NEC USB Floppy” von “NEC Systems” funktionierte einwandfrei.

Vier von fünf Disketten ließen sich problemlos lesen und auf die HD kopieren. Nur eine Diskette machte Zicken und produzierte Lesefehler en masse. „Retry“ in Serie brachte keinen Erfolg, aber irgendwann fiel mir auf, dass der erste Leseversuch nach einer längeren Pause klappte. Das stellte sich als reproduzierbar heraus. Langsam, aber doch, ließ sich jeder File kopieren.

Die Lebensdauer von 3 ½“ Disketten wird meist mit 10 Jahren angegeben. Insofern sind meine 29 Jahre mit 20% „Ausfall“ ein recht guter Wert. Die 5 ¼“ Disketten sollen auf Grund der niedrigeren Schreibdichte eine etwas höhere Lebensdauer haben. Beides natürlich kein Vergleich zu Tontafeln, die Jahrtausende überdauern :-)

Der nächste Schritt wird spannend: mit welchem Tool können die Bits ins digitale Leben zurückgebracht werden?

TeX-Files rendern

Vor 30 Jahren war es nicht ganz einfach, ein typographisch ordentliches Textbild auf einem PC zu erstellen. Gute Ergebnisse lieferten die im akademischen Bereich verbreiteten Satzprogramme „TeX“ und das einfacher zu verwendete Derivat LaTeX von Leslie Lamport. TeX und LaTeX sind Auszeichnungssprachen, ähnlich wie html. Die TeX-Files können mit jedem ASCII-Editor geöffnet werden.

Mit dem MS-Editor (notepad) ließen sich meine LaTeX-Files problemlos öffnen. Alles tauchte wieder auf, der Rohtext und die Markups. Die Diss war wieder am Monitor lesbar, ein eigenartiges Gefühl, nach so langer Zeit.

Lesbar heißt nicht gut lesbar. Die Auszeichnungen sind schon sehr störend. Das Setzen der Texte sollte allerdings kein Problem sein, da LaTeX immer noch verbreitet in Verwendung ist. Dementsprechend zahlreich sind die Open Source LaTeX Distributionen. Unter Windows wird sehr häufig MiKTeX eingesetzt. Die Installation ist schnell erledigt.

MiKTeX erkennt den sehr alten LaTeX-Stil und schaltet selbständig in den Kompatibilitätsmodus um. Nicht ohne ein Warnung auszugeben:


Entering LaTeX 2.09 COMPATIBILITY MODE
*************************************************************
!!WARNING!! !!WARNING!! !!WARNING!! !!WARNING!! 

This mode attempts to provide an emulation of the LaTeX 2.09
author environment so that OLD documents can be successfully
processed. It should NOT be used for NEW documents!

New documents should use Standard LaTeX conventions and start
with the \documentclass command.

Compatibility mode is UNLIKELY TO WORK with LaTeX 2.09 style
files that change any internal macros, especially not with
those that change the FONT SELECTION or OUTPUT ROUTINES.

Therefore such style files MUST BE UPDATED to use
Current Standard LaTeX: LaTeX2e.
If you suspect that you may be using such a style file, which
is probably very, very old by now, then you should attempt to
get it updated by sending a copy of this error message to the
author of that file.
*************************************************************

Die Warnung war berechtigt, mein Book-Style von 1985 war nicht kompatibel. Einige kleinere Inkompatibilitäten konnten beseitigt werden. Das Problem mit dem Makro „Part“ war aber für mich unlösbar.

Also blieb nur der Weg auf den aktuellen Standard LaTeX2e zu aktualisieren. Glücklicherweise war das Update sehr einfach, es musste nur eine Zeile ersetzt werden:

LaTeX 2.09 LaTeX 2e
\documentstyle[11pt]{rgbook}
\documentclass[11pt]{book}
\usepackage[ngerman]{babel}

Der 2e-Style „book“ ist völlig anders umgesetzt, als der 2.09-Style „book“, liefert aber visuell ein nahezu identisches Ergebnis. Der Style „rgbook“ enthielt meine deutschen Anpassungen – Kapitel statt Chapter etc. In LaTeX 2e ist das nicht mehr notwendig, hier übersetzt das Babel-Paket.

Das Setzen der 277 Seiten in ein PDF-Dokument benötigt heute weniger als eine ½ Minute. 1989 arbeitete der PC 43 Minuten daran. Was waren das für Zeiten …

PC 1989

Das Layout ist nahezu deckungsgleich zum damaligen Dokument. Nur bei sehr langen Textpassagen befinden sich 1 bis 2 Wörter mehr auf einer Seite. Der Algorithmus zur Worttrennung findet jetzt mehr Trennmöglichkeiten, als früher.

Doch halt, die Bilderrahmen sind alle leer. Wo sind denn die Grafiken alle geblieben???

DRW-Files rendern

Die Zeichnungen wurden vor 30 Jahren mit Lotus Freelance Plus unter DOS erstellt. Auch heute gibt es noch Programme, die DRW-Files öffnen können. Z.B.:

  • Inkscape
  • CorelDraw
  • MS Picture It!
  • Anvil
  • Caddie
  • Pro/ENGINEER

Die innere Struktur scheint aber verschieden zu sein, denn keines dieser Programme konnte Freelance DRW-Files öffnen. Lotus selbst hat dieses Format bereits 1990 aufgegeben. Das Nachfolgeprodukt „Freelance Graphics“ verwendete zunächst das proprietäre Format PRE und später PRZ. Vermutlich ist dieser frühe Tod der Grund, dass Freelance DRW-Files heutzutage praktisch unbekannt sind.

OK, Konvertierung der DRW-File mit einem aktuellen Programm geht nicht. Die nächste Alternative ist die Installation eines alten Programmes. So alt wie nötig, damit es DRW-Files versteht und so jung wie möglich, damit möglichst viele, aktuell verwendbare, Dateitypen zur Auswahl stehen.

Der entscheidende Tipp kam von hier:

  • Installiere Freelance Graphics vom Paket Lotus Smart Suite 9.8
  • Öffne DRW-Files in einer leeren Seite (ohne Seitenlayout!)
  • „Speicher unter“ um es zu konvertieren

Das war es! Das Paket 9.8 stammt aus dem Jahre 2002. Um Probleme mit der Grafik vorsorglich aus dem Weg zu gehen, habe ich Freelance Graphics in einer virtuellen XP SP3 Maschine installiert (Oracle VirtualBox).

Grundsätzlich funktionierte der Import der DRW-Files. Kleinere Probleme gab es bei:

  • Seitengrößen gingen verloren
    Alle Objekte wurden auf eine querliegende Seite platziert. Objekte im Format Din A4 hoch ragten daher über die Layout-Seite hinaus und wurden beim Abspeichern abgeschnitten. Abhilfe: vor dem Abspeichern verkleinern.
  • Farben gingen verloren
    War bei mir kein Problem, da alles S/W war.
  • Selten gingen Symbolgrößen verloren
    Manche Symbole waren sehr viel kleiner, als im Original. Abhilfe: wieder vergrößern.
  • Schraffur änderte sich
    War akzeptabel
  • Strichstärken-Abstufungen änderten sich
    „Dick“ war dicker und „Dünn“ war dünner. Unschön, aber akzeptabel.

Beim „Speichern unter“ gab es 21 Formate zur Auswahl. Interessant darunter waren:

  • Power Point (ppt)
  • Adobe Ilustrator (ai)
  • PostScript (eps)
  • Windows Metadatei (wmf)
  • Grafikformate (bmp, cgm, jpg, gif, tif)

Der verwendete LaTeX-Compiler „pdflatex“ kann nur Bilddateien im Format *.pdf, *.jpg oder *.png verarbeiten. Da jpg- für Strichzeichnungen ungeeignet ist und png in Freelance nicht angeboten wurde, blieb nur pdf übrig. Das Konvertieren in pdf übernahm der pdf-writer CutePDF.

Einbinden den Grafiken

Langsam erinnerte ich mich wieder, die Grafiken fehlten eigentlich gar nicht, sie waren nie eingebunden. Die Grafiken wurden damals mit dem HP7475A geplottet, zugeschnitten und in das Original eingeklebt. Davon wurde eine Mutterkopie gezogen, von der alle weiteren Kopien stammten.

Heutzutage macht man eine "digitale Mutterkopie". Das ist in LaTeX sehr einfach zu realisieren:

\usepackage{graphicx}
:
\includegraphics[width=140mm]{Bilder/AT/AT-1.pdf}

Das war's. Die Diss lebt wieder :-)

Diss Seite 1

 

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